Die Abschaffung des Numerus Clausus begrüsst der VSAO Zürich ausdrücklich. Allerdings bedauern wir, dass die Politik diesen Schritt ohne einen Plan für eine Nachfolgelösung vollzogen hat. Es ist dringend notwendig, eine nationale Strategie für die Zulassungsvoraussetzungen von angehenden Ärzt:innen zu entwickeln (vgl. z.B. Assesments in anderen Ländern). Schliesslich stehen nach wie vor nur begrenzte Studien- und Weiterbildungsplätze zur Verfügung. Unterschiedliche kantonale Zulassungsvoraussetzungen sind weder sinnvoll noch nachvollziehbar. In diesem Kontext macht es wenig Sinn, dass der Kanton Zürich mit einem Pflegepraktikum als zusätzliche Eingangshürde vorprescht.
Warum steht der VSAO Zürich der Motion für ein mindestens sechsmonatiges Pflegepraktikum für angehende Medizinstudierende kritisch gegenüber?
1. Ein Praktikum wird die Drop-out-Rate nicht beeinflussen
Ein Pflegepraktikum vor dem Studium wird die Anzahl der Ärzt:innen, die den Beruf vorzeitig verlassen, nicht reduzieren. Laut einer Studie der Schweizer Medizinstudierenden Verband swimsa erwägen ein Drittel der Studienabgänger:innen, den Arztberuf nicht aufzunehmen. Dies v.a. mit Hinblick auf die schlechten Arbeitsbedingungen, zumal es auch noch attraktive Alternativen gibt wie andere Berufsbereiche (Staat, Versicherungen, Pharma) die Ärzt:innen brauchen. Ein vorgeschaltetes Pflegepraktikum wird daher keinen Einfluss auf die Ausstiegsrate haben.
2. Arbeitsbedingungen sind das eigentliche Problem
Ärzt:innen sind beim Berufseinstieg oft überrascht, aber nicht wegen des Patientenkontakts «mit kranken und sterbenden Menschen», wie es in der Motion heisst. Vielmehr sind es die schlechten Arbeitsbedingungen – eine durchschnittliche 56-Stunden-Woche und unzureichende Weiterbildung – die den Nachwuchs abschrecken und dazu führt das zwischen 10-15% ihre Facharztausbildung nicht abschliessen. In der Motion heisst es: «Viele Studierende sind mit dieser Situation konfrontiert und entschliessen sich bereits vor Abschluss des Studiums oder nach dem Staatsexamen, nicht als Ärztinnen oder Ärzte tätig zu werden.» Diese Aussage von Widler verkennt die tatsächlichen Gründe für den Berufsausstieg und den Ärzt:innenmangel. Es ist traurig und enttäuschend, dass Mitte-Kantonsrat Josef Widler die schlechten Arbeitsbedingungen der Ärzt:innen mit «falschen Vorstellungen davon, wie der Alltag im Spital aussieht» gleichsetzt.
3. Resilienz als Auswahlkriterium ist fragwürdig
Die Forderung nach Resilienz als Zulassungskriterium garantiert nicht, dass kompetentere oder empathischere Ärzt:innen ausgebildet werden. In der Motion wird behauptet: «Offenbar ist die heutige Auswahlmethode nicht geeignet, resiliente Personen zu selektionieren.» Doch Resilienz allein macht noch keine gute Ärzt:in aus. Wichtiger sind fachliche und soziale Kompetenz und Motivation.
4. Verständnis für die Pflege ist bereits vorhanden
Die junge Generation von Ärzt:innen versteht die Bedeutung der interprofessionellen Zusammenarbeit. Im Gegensatz zur älteren Generation ist für sie die Kooperation mit Pflegekräften selbstverständlich. Ein zusätzliches Praktikum würde dieses Verständnis kaum erweitern. Im Artikel betont die SP-Kantonsrätin Renata Grünenfelder: «Es sei wichtig, sich gegenseitig anzuerkennen und sich als Behandlungsteam zu begreifen.» Dies ist bereits gelebte Praxis unter jungen Mediziner:innen und würde durch ein Praktikum nicht weiter gestärkt. Was aber sicher angedacht werden muss, ist das Medizinstudium zu reformieren und praxisnaher zu gestalten.
5. Pflegealltag entspricht nicht der ärztlichen Tätigkeit
Einblick in den Pflegealltag zu erhalten, mag wichtig und bereichernd sein, entspricht jedoch nicht den Anforderungen und Aufgaben der ärztlichen Tätigkeit. Die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten unterscheiden sich erheblich. Ein Pflegepraktikum bietet keinen adäquaten Einblick in den späteren Berufsalltag als Ärzt:in. Damit korreliert die pflegerische Berufseignung nicht zwangsläufig mit der ärztlichen Berufseignung. Fraglich auch, wer die Eignung überhaupt objektiv attestieren soll.
6. Weitere Hürden und Verlängerung der Ausbildungszeit
Ein sechsmonatiges Pflegepraktikum als Zulassungsvoraussetzung schafft eine zusätzliche Hürde und verlängert die ohnehin lange Ausbildungszeit weiter. Die Motion fordert: «Es soll deshalb den Anwärterinnen und Anwärtern für ein Medizinstudium ermöglicht werden, während mindestens sechs Monaten als Hilfspflegende ein Praktikum zu absolvieren.» Dies würde de facto das Gesamtstudium um mindestens ein weiteres Jahr verlängern und den Berufseinstieg wahrscheinlich noch unattraktiver machen. Mit dem Praktikum allein ist das Selektionsverfahren für die wenigen Studienplätze zudem noch nicht ersetzt.
7. Keine Lösung für den Pflegenotstand
Angehende Ärzt:innen als billige Arbeitskräfte in der Pflege einzusetzen, ist keine ethisch vertretbare Lösung für den Pflegenotstand. Zudem können sie den Fachkräftemangel in der Pflege nicht kompensieren. Die Praktikant:innen würden gegebenenfalls eher zusätzlichen Betreuungsaufwand verursachen, womit fraglich ist, ob die Betriebe von dieser Neuerung profitieren würden.
8. Relevanter Einblick nur in Spitälern möglich
Ein sinnvolles Praktikum wäre nur in Spitälern oder ambulanten Arztpraxen möglich, wo der ärztliche Alltag erlebt werden kann. Praktika in Pflegeheimen bieten diesen Einblick nicht und würden am Ziel vorbeischiessen. Die Motion erwähnt jedoch explizit auch Pflegeheime als Einsatzorte.
Fazit
Anstatt zusätzliche Hürden für angehende Medizinstudierende zu schaffen, sollten wir uns auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen konzentrieren. Nur so können wir den Ärzt:innenmangel nachhaltig bekämpfen und sicherstellen, dass die kostspielig ausgebildeten Ärzt:innen dem Beruf treu bleiben und nicht in attraktivere Berufe abwandern. Es ist an der Zeit, die wahren Ursachen des Problems anzugehen, statt Symptome zu behandeln.