News | 08.12.2021

Eine pathologische Branche

Numerus Clausus auf der einen Seite, akuter Ärztemangel auf der anderen Seite: Die vergangenen Monat publizierten Berichte im SonntagsBlick und auf watson.ch sind alarmierend und zeigen die wunden Punkte unserer Branche auf, gegen die der VSAO Zürich seit langem ankämpft. Auch VSAO-Mitglied Alen Hascic hat sich kritisch über die Bedingungen für Ärzt*innen in der Schweiz geäussert. Wir sind diesem Thema nachgegangen und haben mit Alen über seine Motivation und seinen Mut gesprochen, seine Kritik öffentlich zu äussern.

Wovon Berufsverbände schon lange warnen, hat nicht zuletzt Corona uns allen vor Augen geführt: Wir stecken in einer Jahrhundert-Gesundheitskrise. Denn der Bedarf an ärztlicher Versorgung steigt durch Überalterung, Mehrfacherkrankungen und der Pandemie massiv. Es herrscht Ärztemangel. Gleichzeitig ist die Anzahl Studienplätze durch den Numerus Clausus beschränkt und viele ausgebildete Ärzte steigen aus dem klinischen Alltag aus. Die Gründe dafür sind häufig Erschöpfung durch ein zu hohes Arbeitspensum und Überstunden. Letztere fallen insbesondere durch den massiven administrativen Aufwand* an, der die Ärzteschaft zu bewältigen hat.

Auch Alen Hascic hängte den weissen Kittel an den Nagel. Schon zu Beginn seiner medizinischen Laufbahn bemerkte er, wie viel Zeit und Raum die administrativen Belange einnehmen. Um diese Abläufe effizienter zu machen, setzte er sich neben seiner Assistenzarzttätigkeit auf der Radiologie auch in der Unternehmensentwicklung ein. Doch selbst dort stiess er an Grenzen und merkte: Wenn er wirklich etwas verändern wollte, musste er an die Wurzel des Problems heran – und raus aus dem Beruf. Seit einem Jahr studiert er nun Unternehmensführung an der Universität St. Gallen.

Dass die Administration eine grosse Problematik im Klinikalltag darstellt und immer mehr Schweizer Ärzt*innen – insbesondere Frauen um die 30 – aus ihrem erlernten Beruf aussteigen, bewegt den VSAO Zürich seit langem. Als Folge dieser Entwicklung resultiert eine Unterversorgung in kleineren Regionen und ein Nachwuchsmangel insbesondere bei Hausärzten. Zwar wurden die Studienplätze infolge des Ärztemangels in diversen Kantonen bereits erhöht. Allerdings bringt dieser Schritt alleine nicht viel, wenn die Arbeitsbedingungen nicht stimmen. Noch immer hat sich die Teilzeitarbeit bei der Ärzteschaft zu wenig etabliert. Und es ist elementar, die Frauenförderung voranzutreiben, die Kultur in den Spitälern zu verbessern, den Nachwuchs frühzeitig zu fördern und junge Generationen und ihre Bedürfnisse zu verstehen. Auch in Bezug auf die Zusatzbelastung durch die Administration gibt es bereits gute Modelle wie den Hospitalisations-Manager. Diese müssen unserer Meinung nach ausgebaut werden, so dass jeder Arzt von einer solchen Person unterstützt wird und sich mehr auf seine eigentlichen Aufgaben konzentrieren kann.

Nicht zuletzt braucht es mutige Vertreter*innen aus der Ärzteschaft wie Alen, die sich öffentlich zu diesen Thematiken äussern und für die Anliegen ihrer Kolleg*innen einstehen.

*Siehe Studie: https://saez.ch/tour-dhorizon?tx_swablog_postdetail%5Bpost%5D=61

 

3 Fragen an Alen Hascic

Alen, Du hast Dich in der Öffentlichkeit über den Missstand in der Gesundheitsbranche geäussert. Was hat Dich zu dem Schritt bewogen? Hat es viel Mut gebraucht und was waren die Reaktionen, öffentlich sowie aus Deinem Umfeld?

Mutig würde ich es nicht unbedingt nennen, aber ich habe es mir gründlich überlegt und mich über die Journalistin und die Zeitung erkundigt. Mir war es wichtig, dass der Artikel kritisch, aber trotzdem konstruktiv ist. Ich denke, das ist gelungen.

Ich hatte mich dazu entschlossen mitzumachen, weil ich es als eine einzigartige Gelegenheit ansah, das Anliegen an eine grosse Leserschaft zu bringen. Selbstverständlich zögerte ich zu Beginn, aber ich dachte mir, das Thema ist zu wichtig und die Chance zu gross, als dass ich sie aus Sorge vor etwaigen negativen Konsequenzen verstreichen lassen sollte.

Reaktionen habe ich nur ganz wenige aus dem persönlichen Umfeld erhalten. Diese waren durchs Band positiv. Öffentliche Reaktionen sind mir nicht bekannt.

Du hast Deinen Job als Assistenzarzt an den Nagel gehängt und studierst nun Unternehmensführung an der HSG. Welche Erkenntnis hast Du in Bezug auf den Klinikalltag bis anhin aus Deinem Studium gezogen?

Dank dieser neuen Perspektive habe ich realisiert, wie ausgeprägt die Trennung zwischen fachlicher und organisatorischer Arbeitsweise in der Medizin wirklich ist. Was das Fachliche angeht, gehören wir in der Schweiz zu den Vorreitern. Vom ersten Bedside-Teaching im Studium bis zum letzten Journal Club wird der Fokus auf die evidenzbasierte Medizin gelegt. Jede neue Entwicklung wird akribisch analysiert und hin auf ihre Anwendbarkeit im eigenen Klinikalltag geprüft. Man denke nur auf die häufigen Anpassungen der Guidelines zu Beginn der Pandemie.

Auf der anderen Seite habe ich an der HSG verschiedene Organisationsweisen und Arbeitsmodelle kennengelernt, welche jedoch bei weitem nicht dieselbe Akzeptanz geniessen, obwohl sie genauso auf wissenschaftlicher Evidenz basieren und ihre Raison d’Être haben. Dieses diametrale Verhalten von uns Medizinern und Medizinerinnen irritiert mich sehr.

Denkst Du, die Gesundheitsbranche kann diese Missstände in absehbarer Zeit bewältigen und was sind Deiner Meinung nach die Prioritäten dazu?

Sie muss! Der Fachkräftemangel wird genauso wie der Bedarf an medizinischen Dienstleistungen weiter zunehmen. Wenn wir uns nicht in eine Krise hineinmanövrieren wollen, müssen wir tätig werden, und zwar jetzt.

Es handelt sich um ein komplexes Problem und wie bei einer komplexen Krankheit gibt es auch hier keine Wunderpille, sondern es ist notwendig, die Sache aus mehreren Richtungen anzugehen.

Meiner Meinung nach wären attraktivere Arbeitsbedingungen die geeignetste Massnahme, um die aktuelle Lage zu stabilisieren. Diese setzen bei den aktuell Betroffenen an und erlauben es, sie überhaupt erst zu rekrutieren und dann auch zu halten. Beispielsweise durch neue Arbeitsmodelle, Unterstützung in der Administration, vermehrte Digitalisierung oder eine organisierte Karriereplanung.

Weiter sollten Ansatzpunkte, welche das Studium oder auch den Stellenwert der Hausarztmedizin betreffen, parallel in die Wege geleitet werden. Wie gesagt – wir müssen auf mehreren Schienen fahren.

Aber dies ist ja auch alles bereits bekannt, nur schaffen wir die Umsetzung nicht. Es mangelt nicht am Wissen, sondern am Willen der verschiedenen Entscheidungsträger*innen. So gravierend die Lage auch ist, insbesondere der wirtschaftliche Schuh scheint noch nicht genügend zu drücken. Aber die Blase wird schneller da sein, als es uns lieb ist.